Kampfkunst und geschlechtsspezifische Gruppendynamik
Kampfkunst und geschlechtsspezifische Gruppendynamik: Ich erhalte häufig E-Mails von Frauen, die eine Selbstverteidigungsmethode erlernen möchten – oft gepaart mit der Frage, ob ich denn Spezialklassen für Frauen anbiete. Das Bedürfnis „unter sich“ zu trainieren, ist durchaus nachvollziehbar. Auch in anderen Bereichen beobachtet man diese Entwicklung. In der Sauna gibt es plötzlich einen Bereich nur für Frauen, abends in der Disko gibt es eine Ladies Night, man geht zusammen aufs Klo, etc. In anderen Worten, man hält zusammen. Um an die Thematik „Selbstverteidigung“ herangeführt zu werden, kann es sinnvoll sein, anfangs nur Frauen zu unterrichten. Im Training können durchaus unangenehme Themen* aufkommen, die man vielleicht keinem anderen Mann (so nett er sein mag) erzählen möchte. Für einen dauerhaften Lerneffekt empfiehlt es sich aber, Frauen und Männer zusammen trainieren zu lassen** und nicht zu trennen. Der Grund ist einleuchtend: Frauen werden weniger von Personen desselben Geschlechts angegriffen (körperlich oder verbal). Oft haben sie dabei mit einem Mann zu tun. Trainieren wir also realistisch.
Gegenseitiges Bedingen: In dem Yin ist ein bisschen Yang und in dem Yang ein bisschen Yin.
Menschen sind komplexe Lebewesen. Man hätte es vielleicht gerne, dass bestimmte Charaktereigenschaften nur den Frauen oder nur den Männern vorbehalten sind, z.B. ruhig respektive ungestüm. Die Realität (also meine) ist aber deutlich nuancierter. Charaktereigenschaften kennen keine Geschlechter und hängen vielmehr mit den Erfahrungen und dem sozialen Umfeld zusammen, in dem wir aufgewachsen sind oder uns gerade befinden. Nichtsdestotrotz kann man manchmal schon beobachten, dass bestimme Züge eher bei Männern (größeres Ego, keine Schlaghemmungen, aggressiver, etc.) oder bei Frauen (still und ruhig, Schlaghemmungen, sensibel, etc.) vorzufinden sind. Möglicherweise werden diese Tendenzen sogar schon in der Erziehung vorgelebt und zementiert. Es kostet viel Kraft, diese zementierten Verhaltensweisen aufzubrechen und für sich neu zu gestalten.
Beim gemeinsamen Training bietet sich also die Chance, dass das aufgeblähte Ego des Mannes durch die ruhige Art der Frau besänftigt wird. Umgekehrt kann die Frau lernen, Grenzen besser zu setzen und ihren Platz einzufordern. Die Frau, die sich noch nicht traut zuzuschlagen (weil ungewohnt), trainiert mit einem Mann, der keine Schlaghemmungen hat und erhöht dadurch ihre Selbstverteidigungsfähigkeit. Der Mann, der dazu neigt direkt zuzuschlagen (denn draufgängerisch), lernt vielleicht, sich kommunikativ und kooperierend (wie eine Frau ein Problem eher lösen würde) zu verhalten bzw. sich dem Kampfgeschehen anzupassen. Er lernt also mit mehr Sensibilität zu kämpfen. Wir können also festhalten: Ein bunter Mix an Schülern*** hat klare Vorteile.
Na gut, aber wie kann ein neues Gleichgewicht hergestellt werden?
Bei der Steuerung der Gruppendynamik kommt dem Lehrer eine wichtige Aufgabe zu: Er soll so offen sein, dass er Ungleichgewichte wahrnimmt und mutig anspricht, entweder in Zweiergesprächen oder in der Gruppe. Aber auch der Schüler ist verantwortlich für sein eigenes Wohl beim Kampfkunsttraining (und außerhalb).
Wer ist geeigneter zu unterrichten? Ein Lehrer oder eine Lehrerin?
Eine pauschale Antwort gibt es nicht. Einige Lehrerinnen weisen drauf hin, dass Männer – egal wie gut sie qualifiziert sind – nicht die Realität der Frauen kennen und damit gar nicht wirklich wissen, was für Probleme diese haben. Lehrer hingegen können sich vermeintlich viel besser in die Denke des typischen Täters hineinversetzen und es den Frauen deshalb besser klarmachen, welche Gefahren von einem Mann ausgehen können. Wieder macht man daraus einen Grabenkampf zwischen den Geschlechtern, frei nach dem Motto „Stifte Unfrieden unter denen, die du beherrschen willst.“ Vielmehr sollte es bei der Suche nach dem richtigen Lehrer oder der richtigen Trainerin um Intuition, Empathie und Vertrauen gehen (natürlich sollte die Kampftechnik auch stimmen).
- Sich nach dem Probetraining anzumelden, beruht erstmal auf einem Gefühl einer Vorstellung von dem, was kommen kann. Es ist schlicht und ergreifend unmöglich, innerhalb einer Trainingseinheit alle Facetten der Kampfkunst zu entdecken bzw. den Lehrer oder den Schüler kennenzulernen.
- In einem weiteren Schritt geht’s um Empathie. Kann sich der Lehrer in meine Situation hineinversetzen? Hört er mir zu? Kann er sich bei den Übungen in die Lage der aggressiven/sich zur Wehr setzenden Person hineinversetzen?
- Ist das gegeben, entsteht ein Vertrauensverhältnis zwischen Schüler und Lehrer. Der Schüler vertraut dem Lehrer, dass er es ihm beibringen kann. Der Lehrer vertraut dem Schüler, dass er die neu erlernte Technik nicht zu falschen Zwecken einsetzen wird. Ohne dieses Vertrauensverhältnis aufzubauen, kann der Fluss an Informationen nicht so gut laufen und es können deshalb keine flexibel anzupassenden Problemlösungen erarbeitet werden.
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Autor: Philippe Roussel
Lehrer für WingTsun und Newman Escrima in Köln-Bickendorf und Lüttich-Cointe
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*Es empfiehlt sich – für Frauen und Männer gleichermaßen – auf den Lehrer/die Lehrerin zuzugehen und sich ihm/ihr anzuvertrauen, sollte ein Trauma vorliegen. Dadurch kann er bei bestimmten Themen Rücksicht auf den Schüler bzw. die Schülerin nehmen und sensibler unterrichten.
**Für einige Frauen kann das Überwindung kosten, in einer Männergruppe zu trainieren. In der Tat fühlen sich öfter Männer von Kampfkünsten angesprochen. Dafür gibt es viele Gründe. Die Frage, die sich stellt, ist: Wenn ich mich schon nicht wohl fühle, mit wohlwollenden Männern zu trainieren und deshalb nicht mit Männern trainieren möchte, wie soll meine Kampfkunst im Falle eines aggressiven Angriffs durch einen Mann funktionieren?
***Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Folgenden auf die gleichzeitige Verwendung weiblicher und männlicher Sprachformen verzichtet und das generische Maskulinum verwendet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für beide Geschlechter und alle, die sich der LGBTIA+ zugehörig fühlen.