Kampfkunst und die Illusion der Trennung
Kampfkunst und die Illusion der Trennung: Der Mensch unserer Zeit denkt oft in Schubladen, so ist es auch häufig in der Kampfkunst unserer Zeit: Man entscheidet sich für ein System, bei dem der Straßenkampf oder der Kampfsport, die mentale oder die körperliche Gesundheit im Fokus steht. Man spricht von inneren oder äußeren Stilen. Einige schwören auf den Waffenkampf, während andere nur den waffenlosen Kampf im Blick haben. Andere wiederum konzentrieren sich auf den Faustkampf, während manche den Einsatz der Beine bevorzugen. Indem man derartige willkürliche Trennungen vornimmt, so die Annahme, könne man ein besseres Gesamtverständnis für den Themenkomplex Kämpfen(lernen) entwickeln.
Als gebürtiger Belgier aus „Chicago-sur-Sambre“ möchte ich in meinen beiden Schulen in Köln-Bickendorf und in Lüttich-Cointe (Belgien) bestehende Mauern einreißen und den Fluss zwischen verschiedenen Wissensbereichen ermöglichen. Neueste Erkenntnisse der Wissenschaft (z. B. Neurowissenschaften, Biomechanik, Sportwissenschaften, etc.) und Weisheiten jahrhundertalter Philosophien (Stoizismus, Buddhismus, Taoismus, etc.) weisen drauf hin, dass es keine Trennungen gibt. Eckart Tolle, ein deutscher Philosoph unserer Zeit, spricht zum Beispiel von der „Illusion der Trennung“.
Verfolgen wir einen ganzheitlichen Ansatz in der Kampfkunst
Ich erkläre meinen Schülern, warum man lieber einen ganzheitlichen Ansatz verfolgen sollte. In der Tat ist das Entstehen, Abwenden und Anwenden von Gewalt ein äußerst komplexes Thema, das ich in meinem Unterricht mit viel Geduld und Empathie beleuchte. In der Selbstverteidigung im engeren Sinne geht es primär um Selbstschutz auf der Straße. Man denkt also zunächst an körperliche Abwehrtechniken, die oft standardisiert und mechanisch wirken; Der Mensch ist allerdings kein Roboter. Die psychische Seite des Straßenkampfes blendet man gerne aus. Dabei spielen Emotionen (Angst, Wut, Hass, etc.), Kampfgeist oder soziale Herkunft eine entscheidende Rolle. Die sportliche Seite ist aber genauso wichtig: Kardiotraining (unter Adrenalin fließt das Blut schneller durch den Körper, das Herz muss hierauf vorbereitet werden) und Körperertüchtigung, also Dehn- und Kräftigungsübungen, sind unabdingbar. In unserer Gesellschaft leiden viele Menschen psychisch – sei es beispielsweise wegen Corona, des Krieges, ihrer familiären oder beruflichen Situation. Deshalb ist es wichtig, eine Transferleistung aus dem Training in die „reale“ Welt zu erbringen, damit wir Strategien gegen äußere Reize (Angriffe, Beleidigungen, …) oder innerliche Zustände (mangelnde Konzentration, Grübeln, usw.) entwickeln.
Was ein ganzheitlicher Ansatz nicht ist
Einen holistischen Ansatz zu verfolgen, bedeutet allerdings nicht, zehn verschiedene Kampfmethoden gleichzeitig zu betreiben (eine für den Bodenkampf, eine andere für die mentale Seite, eine andere für Armhebel, etc.) oder jede einzelne Kampfkunst nur für kurze Zeit zu praktizieren (ein Jahr Judo, sechs Monate Krav Maga, ein Wochenende Aikido, etc.). Dieses „Shopping around“, das für unsere Zeit so typisch ist, führt zu keinem nennenswerten Ergebnis. Stellt euch vor, dass ihr auf einmal fünf verschiedene Sprachen lernen möchtet. Wie viel Zeit könnt ihr jeder Sprache widmen? Wir sagen mal zwei Stunden pro Woche und das ist schon optimistisch. Wie lange wird es dauern, bis ihr in allen fünf Sprachen fehlerfrei sprechen könnt? Sehr wahrscheinlich wird ein Leben nicht reichen. Insgesamt brauchen wir weniger Breite (alle Bereiche ein bisschen abdecken) und mehr Tiefe (vertieftes Verständnis eines bestimmten Themas). Wenn ich mich aber jetzt für eine Sprache entscheiden würde, mit der ich mich zehn Stunden pro Woche beschäftige und in die ich mich vertiefe, stehen die Chancen gut, dass ich die Sprache deutlich früher beherrschen werde, was mir Motivation für weitere Sprachprojekte verleihen wird. Jeder, der seiner Muttersprache mächtig ist, kennt das Phänomen: Beherrsche ich zum Beispiel Deutsch in all seinen Facetten, fällt es einem viel leichter, Niederländisch oder Englisch zu lernen. So kann es auch im WingTsun funktionieren: Versteht man die „Armtechniken“ und ihre Prinzipien, so wird es einem viel leichter fallen, die Beinarbeit zu verstehen. Genauso verhält es sich beim Newman Escrima: Hat man eine gute Vorstellung, wie ein Messer geführt werden kann, wird es viel einfacher sein zu verstehen, wie z. B. der Stock (nicht) geführt wird.
Warum ist so eine Herangehensweise essenziell?
Der Unterschied zwischen Kampkunst und Sprache: Mache ich einen Formulierungsfehler beim Sprechen, kann ich mich korrigieren und meine Botschaft trotzdem rüberbringen. Wehre ich den ersten Fauststoß an eine empfindliche Stelle nicht ab, dann wird es beim zweiten oder dritten Folgeangriff schwierig. Durch diesen tiefen Einblick in die eine Sache kann ich bestimmte Lernstrategien entwickeln und mich besser kennenlernen. Es wird mir viel leichter fallen, etwas Verwandtes zu lernen und zu verdauen. „Verwandtes“ ist das Stichwort, wir möchten verbinden statt trennen. Das, was wir in der Kampfkunst lernen, möchten wir verinnerlichen. Es geht also darum, das zu Erlernende in unser System (Körper) einzuprogrammieren.
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Autor: Philippe Roussel
Lehrer für WingTsun und Newman Escrima in Köln-Bickendorf und Lüttich-Cointe