Nachdem wir uns in den beiden vorangegangenen Artikel einen allgemeinen Überblick über den Buddhismus bzw. den Chan-Buddhismus verschafft haben, sollen hier nun die Verknüpfungen zu unserem WingTsun aufgezeigt werden. Ob und in wie weit dieses Gedankengut die chinesischen Kampfkünste und damit das WingTsun überhaupt beeinflusst hat, bleibt im Übrigen ein Gedankenspiel.
Es sei noch einmal betont, dass wir im WingTsun die möglichen Einflüsse des Buddhismus, vor allem des Chan-Buddhismus, als Möglichkeiten zur Persönlichkeitsentwicklung betrachten und konkrete strategische Momente davon ableiten. Es geht nicht um kulturelle, religiöse oder politische Weltmodelle. Auch nicht um das Übernehmen einer fernöstlichen Mentalität mit den ihr eigenen Charaktereigenschaften. Vielmehr geht es um das Verständnis eines Lebensweges, der zu einem bestimmten geistig-psychischen Bewusstseinszustand führen kann.
Mentale Grundlage: Siegen kann nur einer, gewinnen können alle!
Wie Prof. Tiwald es formulierte, ging es in den fernöstlichen Bewegungskünsten primär nicht ums Siegen, sondern darum, das Wesentliche der Kampfkunst zu entfalten und für die Persönlichkeitsentwicklung zu nutzen. Als positiver Nebeneffekt stellte sich eine „siegesorientierte Leistungsoptimierung“ ein. Den Fokus ausschließlich aufs Siegen zu richten, führt leicht dazu, auf Abwege zu kommen, anderen unnötig deren Weg zu erschweren und das Hauptanliegen, sich geistig-psychisch zu entwickeln, aus dem Auge zu verlieren. Mit dem richtigen Schwerpunkt kann Kampfkunst dazu beitragen, dass sich die Menschen gegenseitig dabei helfen, ihre Fähigkeiten und ihr Wesen zu entwickeln. Die buddhistische Lehre zielt darauf ab, die menschliche Natur in uns und dem anderen zu erkennen. Sie vermittelt das So-sein-lassen-Können eines jeden Menschen: Nicht den anderen ändern zu wollen, sondern uns selbst.
Achtsamkeit als oberstes Prinzip
Kämpfen steht also nicht unbedingt im Mittelpunkt einer chan-orientierten Kampfkunst. Selbst die Bewegung wird zweitrangig. Wie Großmeister Kernspecht es beschreibt, geht es im Chan zunächst darum, das Steuern der eigenen Aufmerksamkeit zu entwickeln. Danach folgen Achtsamkeit und das Erkennen der menschlichen Natur. Damit erfassen wir schließlich die Situation im Hier und Jetzt. Großmeister Schembri beschreibt es so: Anfangs lernen wir eine innere Achtsamkeit, die auf unser Bewegen, unsere Atmung, unser Gleichgewicht usw. gerichtet ist. Sie entwickelt sich weiter zur äußeren Achtsamkeit, die Trainingspartner, Angreifer, Umgebung usw. umfasst.
Unter der Führung der Achtsamkeit beginnt der Schüler mit einfachen Dingen: richtigem Stehen, Bewegen, Gehen, Sehen und Atmen. Dabei entscheidet er sich für ein Beobachtungsfeld, beispielsweise Atmung. Er bewegt sich nun und bleibt mit der Wahrnehmung bei der Atmung: Verändert sich das Atmen, wenn ich eine bestimmte Bewegung mache? Kann die Veränderung des Atmens durch einfaches Beobachten aufhören, während ich die Bewegung wiederhole?
Durch das Tun selbst, gerade auch alltäglicher Bewegungen, und das Sich-dabei-Beobachten entsteht Verständnis – nicht durch Fragen oder darüber Lesen. Die Kräfte um uns herum wahrnehmen. Die Natur der Dinge erkennen. Nach und nach weitet man seine Aufmerksamkeit auf komplexere Bewegungen aus, lässt sie umfassender werden, ohne sich von dem Beobachtungsfeld ablenken zu lassen. Bis wir auch unter erschwerten Bedingungen – wenn uns ein Partner angreift – in der Lage sind, unsere Aufmerksamkeit beizubehalten.
Der Wert der (Solo-)Formen
Unsere Solo-Formen bieten das richtige Umfeld, sich selbst kennenzulernen. Ein einfaches Verständnis für die Bewegung bekommen, dies ist die „kleine Idee“ der SiuNimTao. Es geht nicht um automatisiertes Abspulen von Bewegungen und weniger um (End-)Positionen, sondern darum, was während der Bewegung geschieht, um von einer zur nächsten Position zu kommen. Die jeweilige Bewegung im Hier und Jetzt gilt es zu beobachten und mit allen Sinnen zu (er-)spüren (Staffel der Sinne), was währenddessen mit dem Körper geschieht. Nicht vorausdenken, was als Nächstes kommt. Nicht überlegen, welche praktische Anwendung die Bewegung haben könnte. Sie mit der Einstellung eines Neu-Anfängers, dem „Beginner’s mind“, wie es Großmeister Schembri treffend bezeichnet, ausführen. Dadurch hat man die Möglichkeit einen unverstellten Blick auf die Kräfte in seinem Körper zu bekommen und Körpereinheit und Gewandtheit auf einem neuen Niveau zu erleben.
Grundlage dabei ist in den Solo-Formen die aufrechte Grundposition. Nach buddhistischem Verständnis verbindet sich dabei der Mensch über die Füße mit der Erde und über den Scheitel mit dem Himmel. Dabei fühlt sich der Kopf an, als wäre er wie bei einer Marionette leicht aufgehängt, sodass der Nacken- und Schulterbereich leicht und durchlässig bleiben dürfen.
Einstellung im Training
Unter einer chan-orientierten Kampfkunst verstehen wir alltags- bzw. praxistaugliche philosophische Hinweise, mit denen wir den Unterricht optimieren können. Als Schwerpunkt bilden Achtsamkeit und Wahrnehmung einen Rahmen, um den gegenwärtigen Augenblick erfahren und erleben zu können. Der Schüler lernt, eine „Sofortkonzeption“ zu (er-)finden, wie es Prof. Tiwald nennen würde. Der Schüler erfasst durch Experimentieren nach und nach die Natur und Möglichkeiten seines Körpers, die des Partners und die um sich wirkenden Kräfte. Er muss nicht mehr auf den Einheitsbrei von Konserventechniken zurückgreifen. Sie sind – mit Hunderten Wiederholungen und durch stumpfes Nachahmen eingetrichtert – meist nicht wirklich passende Automatismen. Geprägt durch den Chan-Buddhismus wird die Fähigkeit entwickelt, eigene Lösungen zu finden, bei denen auf das eigene Potenzial, die eigenen Möglichkeiten zurückgegriffen werden kann.
Eine grundlegende Idee des Buddhismus ist, dass alles im steten Wandel ist. So wird die Konfliktsituation, in die der Schüler gerät, etwas nie zuvor Dagewesenes sein. Die Umstände werden immer anders, als die, die man bis dahin trainierte. Daher muss er die Fähigkeit erlernen, die Situation ungefiltert mit möglichst vielen Sinnen wahrzunehmen und daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen. Nur so kann er letztendlich eine von der Situation abhängige Lösung finden. Bewusstsein und Handlung müssen geradezu eins werden. Das Timing ist also wesentlich, essenziell. Und um es zu schulen, bedarf es im Training Bewusstheit und langsames Hinführen zum Ziel.
Es gilt, körperliches und geistiges Gleichgewicht zu entwickeln, damit man von der augenblicklichen Wirklichkeit nicht abgelenkt wird. Damit einher muss auch ein gewisses Maß an Selbstdisziplin gehen. Dies zu schulen, ist Kampfkunst ein hervorragendes Instrument. Unsere Trainingspartner oder Gegner versuchen ständig, uns aus unserer Mitte zu bringen. Die differenzierte Betrachtung des Gegenübers ist als Mittel zu verstehen, um mit auf uns einwirkenden Kräften umgehen zu lernen.
Auch wenn wir realistischen Zweikampf lernen und lehren wollen, ist dies nur bis zu einem gewissen Grad möglich, denn wir sind schließlich dabei immer für die Unversehrtheit unseres Trainingspartners verantwortlich – nicht nur körperlich, sondern auch psychisch-emotional. Werte wie Fairness und gegenseitige Achtung sind gerade im kämpferischen Miteinander also ganz wesentliche Bestandteile. Deshalb ist es wichtig, im Training achtsam und bewusst zu sein, um den anderen nicht zu verletzen.
Einstellung im Kampf
Sowohl in der Selbstverteidigung als auch in der Kampfkunst geht es immer darum, auf die im Hier und Jetzt gestellte „Frage“ des Angreifers direkt richtig zu antworten. Nachdenken oder gar überlegen, welche Technik oder Strategie jetzt gerade die passende sein könnte, ist in der Realität fatal. Unser Denkapparat hilft uns in dem Fall nicht weiter. Wir müssen stattdessen lernen, alle unsere Sinne zu nutzen. Sie können uns unmittelbare, nicht von Gedanken verzerrte, interpretierte Informationen geben, die unser Körper unmittelbar beantwortet: Veränderung mit der Veränderung – alles in einem Augenblick. Dies brachte Großmeister Kernspecht zur Formulierung der sieben essenziellen Fähigkeiten, die dem Schüler letztendlich helfen, auf sein eigenes Potenzial zurückzugreifen und blitzartig Lösungen im Kampf zu finden.
Der japanische Zen-Meister Taisen Deshimaru-Roshi schreibt dazu in seinem Werk „Zen in den Kampfkünsten Japans“: „Angriffstechnik wählen? Das ist keine Frage der Wahl. Das muss unbewusst, automatisch und natürlich geschehen. Das Denken darf nicht dazwischentreten, denn sonst gibt es eine Wartezeit und damit eine Lücke… […] Man muss das suki, die Gelegenheit zum Handeln, erfassen. Diese Gelegenheit ist sehr wichtig. Das Denken kann dies nicht!“
Durch die damit verbundene Entwicklung einer besonderen Ausstrahlung kann der potenzielle Angreifer bereits abgeschreckt werden: Selbstbehauptung durch entschlossenes Auftreten. Im optimalen Fall ist damit der Konflikt vor der körperlichen Auseinandersetzung bereits beendet. Ein vermiedener Kampf ist ein gewonnener!
Gleichzeitig schult man seine Fähigkeit, nach und nach auch unter Stress handlungsfähig zu bleiben. Man lernt in einem nicht vermeidbaren Kampf mit körperlichen Kräften umzugehen. Das wiederum strahlt auf die psychisch-emotionale Ebene aus, wodurch der Kampfgeist gestärkt und somit die Kampfkraft erhöht wird.
Eine Gewaltanwendung geht nicht vom WingTsun-Anwender aus. Er baut eine schützende Sphäre auf, womit die Kraft des Gegners umgeleitet und letztendlich gegen ihn selbst genutzt wird. So gräbt sich der Gegner seine eigene Grube…
Quelle: www.wingtsunwelt.com
Text: Dominique Brizin
Fotos: mg/hm